WHO klassifiziert Online-Spielsucht als Krankheit – Experten streiten weiter

Posted on: 23/08/2018, 01:50h. 

Last updated on: 23/08/2018, 03:08h.

Zwei Monate nach der offiziellen Klassifizierung von Computerspielsucht als Krankheit, kehrt noch immer keine Ruhe ein. Eine neue Stellungnahme?von 55 ExpertInnen verteidigt die Einsch?tzung der WHO, dass es sich beim überm??igen exzessiven Online- und Videogaming um eine therapiebedürftige Suchterkrankung handelt.

Gamer with Headset
Online-Spielsucht ist laut WHO eine ernsthafte Erkrankung (Quelle:fee.org)

 

Nachdem die Weltgesundheitsorganisation (WHO) am 18.06.2018 offiziell die 11. Version der International Classification of Diseases for Mortality and Morbidity Statistics vorgestellt (ICD-11) und neben einigen weiteren ?nderungen die Gaming Disorder zur therapiebedürftigen Krankheit erkl?rt hat, hagelte es Kritik.

Neuerungen nach Jahrzehnten

Die ICD-10 war 1992 ver?ffentlicht worden. 26 Jahre sp?ter soll der überarbeitete Katalog weltweit Statistikerhebungen zu Verletzungen, Krankheiten und Todesursachen erleichtern. Zudem ist er ein wichtiges Instrument zur Diagnose und Abrechnung für ?rzte und Kassen.

In der nun ver?ffentlichten ICD-11 ist in der Kategorie ?St?rungen aufgrund von Suchtverhalten“ auch der Punkt 6C51 ?Gaming Disorder“ zu finden. Es handelt sich laut WHO hierbei um exzessives Online- oder Videogaming ohne Rücksicht auf negative Konsequenzen im Alltag. Der Spieler hat die Kontrolle über sein Spielverhalten verloren und ordnet seine Interessen dem Spielen unter.

 

Natürlich ist nicht jeder, der sich mal in einem Online- oder Videospiel verliert, automatisch krank. Wie bei den meisten Dingen macht auch hier laut Experten die Dosis das Gift.

Laut WHO ist krank, wer sein Leben dem Spiel unterordnet. Interessen werden vernachl?ssigt, das private und/oder /berufliche Leben leidet. Und auch die Gesundheit wird in Mitleidenschaft gezogen.

Symptome sind laut American Psychiatric Association u.a.:

Die Gedanken drehen sich auch abseits der Games vorwiegend ums Spielen.

Das Nichtspielen führt zu Gemütszust?nden wie Traurigkeit, Gereiztheit oder Nervosit?t

Andere Menschen werden über die wahren Ausma?e des Spielens get?uscht

Das Interesse an anderen Hobbies sinkt rapide

Negative Emotionen werden durchs Spielen gelindert

Soziale Kontakte werden nicht mehr aufrechterhalten

 

Die WHO erkl?rt die Kategorisierung als Folge international vergleichbarer charakteristischer Auspr?gungen des exzessiven Gamings. Die Aufnahme der Gaming-Spielsucht folge der weltweit steigenden Anzahl von Programmen, die sich speziell mit dieser Problematik auseinandersetzen.

Das Ziel der Klassifizierung als Krankheit sei eine vermehrte Aufmerksamkeit und die F?rderung von Pr?ventions- und Hilfsma?nahmen in diesem Bereich.

Kritiker sehen Gefahr der Stigmatisierung

Kritiker werfen der WHO unter anderem vor, Online- und Videogamer mit der Aufnahme der Gaming Disorder in den Katalog pauschal zu stigmatisieren. Auf einen Schlag würden Millionen Menschen zu Therapiebedürftigen erkl?rt, obwohl sie lediglich einer Leidenschaft nachgehen würden.

Online-Spielsucht als Folge psychischer Erkrankungen

Dass es Menschen gibt, die ein problematisches Verh?ltnis zum Spielen am Computer haben, wird von den Kritikern nicht bestritten. Jedoch sei dieses exzessive Verhalten nicht als Suchtkrankheit einzusch?tzen, sondern vielmehr eine spezielle Art des Umgangs mit anderweitigen psychischen Problemen, wie Depressionen und Angstst?rungen, findet beispielsweise der Psychologe Andy Przybylski.

Przybyliski, Psychologe von der Universit?t Oxford hatte in einem offenen Brief an die WHO mit knapp 30 weiteren Kritikern davor gewarnt, dass die Kategorisierung zum Missbrauch einlade. Zudem mahnte der offene Brief an, dass die Forschung in diesem Bereich nicht ausgereift genug sei, um solch weitreichende Entscheidungen zu treffen.

Computer- und Onlinegaming als übel alles B?sen

Manch ein Kritiker fühlt sich an die Welle der Ablehnung, die Computerspielen insbesondere im Kontext mit Amokl?ufen und Schoolshootings entgegengebracht wurde, erinnert.

Laut Felix Falk, dem Gesch?ftsführer des Verbands Game, der laut eigenen Angaben über 90 Prozent der in der deutschen Gamingbranche Besch?ftigten abdeckt, habe die Panikmache in der Folge dazu geführt, dass die deutsche Gamingbranche nur mit sechs Prozent am Umsatz der in Deutschland verkauften Spiele beteiligt sei.

Erneut werde versucht, Gamer als solche zu stigmatisieren und eine moralisch gef?rbte Panik zu verbreiten. Und das, obwohl laut Falk weniger als ein Prozent der in Deutschland aktiven Gamer exzessiv spielen würden.

Lübecker Forscher verteidigt WHO-Entscheidung

Hans-Jürgen Rumpf
Priv.-Doz. Dr. Hans-Jürgen Rumpf verteidigt die Einsch?tzung der WHO

In einer von der Universit?t Lübeck ver?ffentlichten Stellungnahme weist eine Expertengruppe um Priv.-Doz. Dr. Hans-Jürgen Rumpf darauf hin, dass die von dieser speziellen Form der Spielsucht Betroffenen unter deutlichen und zum Teil schwerwiegenden Beeintr?chtigungen leiden. Die Zahl der Hilfesuchenden sei nachweisbar in den vergangenen Jahren deutlich angestiegen.

 

Vladimir Poznak vom WHO-Programm Suchtmittelmissbrauch sieht das ?hnlich: Gerade junge Menschen seien oft in einem Teufelskreis gefangen, k?nnten sich eigenst?ndig nicht mehr entziehen. Die Einordnung als Krankheit h?lt auch er für sinnvoll.

Spielsüchtig ist jemand, der Freunde und Familie vernachl?ssigt, der keinen normalen Schlafrhythmus mehr hat, sich wegen des st?ndigen Spielens schlecht ern?hrt oder sportliche Aktivit?ten sausen l?sst.

 

Kategorisierung als notwendige Voraussetzung für weitere Forschung

Rumpf und seinen Mitstreitern zufolge ist die Einordnung der Gaming Disorder als Krankheit ein wichtiger Schritt, um sie künftig weiter erforschen zu k?nnen und Heilungs- und Pr?ventionsma?nahmen zu etablieren.

Auch den Vorwurf, unproblematische Spieler würden stigmatisiert, weist die Stellungnahme zurück: Die Diagnose einer Sucht führe nicht dazu, dass übliches Verhalten pathologisiert würde. Würde man dieser Argumentation folgen, dürfe auch Alkoholismus nicht mehr diagnostiziert werden, da dies zur Stigmatisierung unauff?lliger Alkoholkonsumenten führen müsse.

Lobbyistische Positionen

Die Wissenschaftler führen ins Feld, dass insbesondere die Computerspielindustrie die Argumente der Kritiker ins Feld führen k?nne, um die Gefahren der Gaming Disorder herunter zu spielen.

Auch Krankenkassen k?nnten die Vorst??e nutzen, um mit zweifelhaften Thesen die Kostenübernahme bei der Behandlung Erkrankter abzulehnen.

 

Tats?chlich hat die Einstufung in der ICD weitreichende gesellschaftliche und wirtschaftliche Konsequenzen. Befürworter und Skeptiker werden wohl nicht so schnell aufgeben: Erst im kommenden Jahr soll der Katalog auf der Weltgesundheitsversammlung verabschiedet werden. Gültig w?re der Schlüssel dann ab 2022.